Startseite » In Erinnerung – Klaus-Dieter Baumgarten

In Erinnerung – Klaus-Dieter Baumgarten

 

 

 

Der langjährige Chef der Grenztruppen der DDR Generaloberst Klaus-Dieter Baumgarten, kam mir vor wenigen Tagen in den Sinn. Waren es Gespräche, Diskussionen oder irgendein Beitrag in den Medien zum Thema, ich weiß es nicht …

Mir bleibt er aus meinen wenigen Begegnungen mit ihm als stets aufrechter, ehrlicher und gerechter Mensch in Erinnerung. Seinen Überzeugungen blieb er auch unter den Bedingungen der Strafverfolgung treu. 1996 wurde er zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt, im Jahr 2000 begnadigt.

Hier sein Schlußwort vor dem Gericht 1996:

Hohes Gericht,

in jedem Strafprozeß wird dem Angeklagten die Möglichkeit eingeräumt, sich mit einem letzten Wort zu äußern.

Gemeinhin wird erwartet, daß der Angeklagte darin Reue zeigt und das Gericht um ein mildes Urteil bittet. Das setzt aber voraus, daß die Anklage zu Recht erhoben und die Schuld in der Hauptverhandlung zweifelsfrei bewiesen wurde.

Beide Bedingungen wurden in diesem Prozeß nicht erfüllt. (…)

Sechs Jahre nach der Vereinigung – besser gesagt, dem Anschluß der DDR durch die BRD – wird dieser Strafprozeß durchgeführt. Brauchte man solange, um die Anklageschrift zu formulieren und dann die 36. Strafkammer mit der Prozeßdurchführung zu beauftragen? Nein, es ging darum, trotz fehlender Rechtsgrundlage, erst die einfachen Soldaten, die man als „Mauerschützen“ diffamierte, zu verurteilen, um dann mit Hilfe der Massenmedien zu skandieren: Die Kleinen hängt man, die Großen läßt man laufen. Die Prozesse gegen die Soldaten der DDR waren gewollt, und die Opfer der Teilung Deutschlands werden für die Abrechnung mit der DDR mißbraucht. Ist es wirklich so, wie Herr Staatsanwalt Wenzler zu Beginn seines Plädoyers versicherte, daß dies kein politischer Strafprozeß sei, sondern es nur um die Klärung individueller Schuld ginge? Die äußeren Umstände, die politische Lage in diesem Lande und der Verlauf dieses Prozesses bestätigen, es ist ein politischer Strafprozeß. Es ist in der Tat die Abrechnung des vermeintliche Siegers mit den Besiegten.

Dieser Prozeß hat seine Geschichte, und ich glaube, für die Beurteilung meiner Verantwortung und behaupteter Schuld ist es erforderlich, darauf Bezug zu nehmen. Als die Massenmedien die ersten Prozesse gegen Grenzsoldaten ankündigten, die an der Verletzung oder am Tod von Grenzverletzern beteiligt waren, richteten Generalleutnant a. D. Leonhardt, Generalleutnant a. D. Lorenz, Generalmajor a. D. Teichmann und ich einen Brief an die Bundestagspräsidentin, Frau Prof. Dr. Süßmut, und alle Abgeordneten des Bundestages mit der Bitte, die uns unterstellten Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere für die dienstlich an der Grenze vorgenommenen Handlungen strafrechtlich nicht zu verfolgen. Die Verantwortung tragen wir.

Nachdem wir über sechs Wochen weder eine Eingangsbestätigung noch eine Antwort vom höchsten Parlament dieses Staates auf unser Anliegen erhielten, übergaben wir unseren Brief wenige Tage vor Beginn des ersten Grenzerprozesses der Öffentlichkeit. Unmittelbar darauf erhielten wir die Antwort, daß der Bundestag für eine sachliche Behandlung nicht zuständig sei und die „Durchführung von Strafverfahren im Zusammenhang mit Vorkommnissen an der ehemaligen innerdeutschen Grenze vielmehr der Arbeitsgruppe Regierungskriminalität beim Kammergericht Berlin obliegt.“Unser Versuch, die „Kleinen“ nicht hängen zu lassen, wurde vom Tisch gewischt. Die Politiker und die Justiz der BRD verwehrten uns das Recht, den Unterstellten Schutz und Fürsorge zukommen zu lassen, an ihrer Stelle Verantwortung zu übernehmen. Nach wie vor betrachte ich es als meine Pflicht als Offizier, mich um die ehemals Unterstellten zu sorgen. Ich weiß um die großen Probleme, um die sozialen und finanziellen Belastungen, um Diffamierungen und Besudelungen durch Medien, denen sie und ihre Familien ausgesetzt waren, sind oder werden. Das alles nicht, weil sie sich schuldig gemacht haben, sondern weil sie ihrem Staat entsprechend dem Fahneneid dienten. Allen Angehörigen der Grenztruppen, die der politischen Strafverfolgung ausgesetzt sind, möchte ich von hier aus sagen: Wir sind keine Kriminellen undkeine Mauerschützen, wir sind keine Soldaten, die dem Unrecht dienten. Trotz aller Verleumdungen können wir aufrecht und erhobenen Hauptes sagen: Wir haben als deutsche Soldaten unseren Anteil daran, daß der Kalte Krieg nicht zu einem heißen wurde, daß der Frieden erhalten blieb. Und aus eigenem Erleben weiß ich auch, wie wichtig Solidarität ist. Deshalb bitte ich die Grenzer aller Dienstränge: Steht zueinander, helft den strafrechtlich Verfolgten, übt Solidarität mit ihnen, gebt ihnen Kraft und Mut, kämpft für die Gerechtigkeit!

Zur Geschichte dieses Prozesses gehört auch die von der Staatsanwaltschaft gewollte und geförderte widerrechtliche Vorverurteilung der hier Angeklagten durch die Massenmedien. (…)

Es ist bezeichnend, daß die Staatsanwaltschaft ausgerechnet die Bild-Zeitung und diese Art Journalisten zu ihrem Sprachrohr wählte.

Woher hatte Bild die Anlageschrift, wer von der Staatsanwaltschaft ist gegen diesen offenen Rufmord eingeschritten, gegen die Verletzung der Unschuldsvermutung? (…)

Als eine der wichtigsten Begründungen für das strafrechtliche Vorgehen gegen Hoheitsträger der DDR wird behauptet, man dürfe den Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen, daß man nicht oder völlig unzureichend die Naziverbrechen durch die Justiz der BRD verfolgt habe. Daß dies ein verhängnisvoller Fehler war, ist unbestritten. Doch wie kam er zustande? Haben denn Tausende von Mitarbeitern der Staatsanwaltschaft der BRD diesen Fehler aus Unkenntnis der Verbrechen des Naziregimes begangen? Waren sie auf Grund von Arbeitsüberlastung außerstande, Anklage zu erheben und Beweismittelverlust abzuwenden? War man personell nicht in der Lage, eine Sonderstaatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin dafür einzurichten? Nein, es war gewollt, die Verbrechen nur mit großer Zurückhaltung oder gar nicht zu ahnden. (…)

Ich gestehe, es ist mir sehr schwer gefallen, Ihren Vergleich der DDR und unseres Handelns mit dem Nazireich zu ertragen. Dieser Vergleich ist für mich eine unerträgliche Beleidigung, denn ich bin mein ganzes Leben dem Vermächtnis deutscher und internationaler Antifaschisten verpflichtet. Ich bekenne, ich habe Tausende von jungen Bürgern der DDR im Sinne des Antifaschismus erzogen. Unsere Kasernen trugen die Namen derer, die für ein besseres Deutschland ihr Leben gaben, und nicht die eines Generalfeldmarschalls Dietl oder anderer, die dem Nazireich treu gedient haben. Ich bin Herrn Rechtsanwalt Schippert für seine menschlich bewegenden, überzeugenden Worte dankbar, die er fand, als er diesen unerhörten Vergleich auch juristisch fundiert zurückwies.

Im Plädoyer der Staatsanwaltschaft heißt es sinngemäß: „Nicht der Kalte Krieg tötete DDR-Bürger, sondern Menschen.“ Das ist zweifelsfrei richtig. Nur, Herr Staatsanwalt, Ihre Betrachtungsweise ist nach wie vor aus dem geschichtlichen Zusammenhang gerissen, unvollständig, sie ist demagogisch. Jeder Krieg- auch der Kalte Krieg – wird von Menschen vorbereitet und geführt, immer mit konkreten politischen, weltanschaulichen, aber insbesondere wirtschaftlichen Zielstellungen. Die Kriege in diesem Jahrhundert, angezettelt um die Neuverteilung der Einflußsphären und geführt insbesondere von den Herrschenden in Deutschland, kosteten bekanntlich im ersten Weltkrieg über zwanzig Millionen Menschen und im zweiten Weltkrieg über fünfzig Millionen Menschen das Leben. Es gab Zerstörungen unvorstellbaren Ausmaßes. Millionen Menschen wurden obdachlos oder verloren ihre Heimat. Wer zählt die Opfer dieser Verbrechen an der Menschheit? Wer verfolgt ihre Täter, wie es im Potsdamer Abkommen gefordert war? Die Staatsanwaltschaft dieses Landes hat es versäumt, gegen diese Art von Regierungskriminalität wegen Verstoßes gegen das Potsdamer Abkomme zu ermitteln.

Haben Sie, Herr Wenzler, oder Sie, Herr Schmidt, gegen einen Offizier oder General der Wehrmacht oder der SS, die in dieser Bundesrepublik in der Bundeswehr in leitenden Positionen dienten oder hohe Pensionen erhalten, die ihre Auszeichnungen, ihre Ritterkreuze für ihr militärischen Handlungen gegen fremde Völker öffentlich auch an der Uniform der Bundeswehr tragen dürfen, Ermittlungen geführt oder sie angeklagt? Sie verfolgen diejenigen, auf die schon die Nazis Jagd gemacht haben. Ich bin überzeugt, hätte ich den Dienstgrad eines Generaloberst der Wehrmacht, ich würde von keiner Staatsanwaltschaft dieses Landes behelligt werden, kein Gericht würde einen solchen Prozeß wie diesen gegen mich durchführen. Die deutsche Justiz befindet sich auch hier in ihrer Traditionslinie.

Rote Generale, seien es die in Gefangenschaft geratenen Generale der Sowjetarmee oder des Spanischen Bürgerkrieges, die der Nationalen Volksarmee oder der Grenztruppen, werden in Deutschland natürlich anders behandelt. Wir werden verfolgt und verurteilt, obwohl wir keine Krieg geführt haben, obwohl wir keine Kriegsverbrechen begingen und uns keiner Menschenrechtsverletzung schuldig gemacht haben. Unser Verbrechen besteht allein darin, einen Beitrag dafür geleistet zu haben, daß die DDR für vierzig Jahre dem Zugriff für Profit und Ausbeutung entzogen wurde.

Was, Herr Staatsanwalt, geschah mit den Menschen, die Soldaten der DDR erschossen? (…) In unserem Anklagezeitraum wurden vier Angehörige der Grenztruppen ermordet. Die Namen ihrer Mörder stehen in keiner Anklageschrift (…). Die Mörder kalkulierten den bestehenden Rufmord an Grenzsoldaten ein und wußten, daß sie in der BRD für ihre Taten gerichtlich nicht verfolgt werden oder allenfalls symbolische Strafen zu erwarten hatten. Was rechtfertigt solche Handlungen und ihre Nichtverfolgung? Keinem Auslieferungsersuchen der DDR wurde stattgegeben. War das keine Aufforderung für weiteres gesetzwidriges Handeln? Wie sagten Sie doch, Herr Staatsanwalt? „Nicht der Kalte Krieg tötete DDR-Bürger, sondern Menschen.“

Ich wiederhole nochmals, mir geht es nicht um Aufrechnung des Leids. Es ist aber notwendig, gleiche Maßstäbe anzulegen. Das Leben eines jungen Grenzsoldaten, der Schmerz dieser Mutter um ihren Sohn, der sein Leben lassen mußte, ist nicht weniger wert. Auch deshalb darf man nicht zulassen, daß die Geschichte einseitig betrachtet wird und mit politischen Strafprozessen verfälscht werden soll.

Dieser Prozeß ist auch ein sichtbarer Beweis dafür, daß mit unterschiedlichem Maß gemessen wird, wenn es um die Sicherung der Staatsgrenze geht. Wie die Regierung der BRD und ihre zuständigen Organe – darunter auch die Gerichte – die Anwendung der Schußwaffen an den Grenzen der Bundesrepublik bewertet, untersucht beziehungsweise strafrechtlich verfolgt, wird aus einem Schreiben des Bundesministerium des Innern vom 22. September 1994 [1] ersichtlich: Auf eine schriftliche Anfrage der Abgeordneten des Bundestages Frau Dr. Dagmar Enkelmann an die Bunderegierung, wie oft es seit Bestehen der BRD im Bereich ihrer Staatsgrenze durch Angehörige des BSG, der Bayrischen Grenzpolizei, durch Polizeibeamte der Länder, durch Besatzungstruppen beziehungsweise der verbündeten Truppen zum Schußwaffengebrauch kam und in wie vielen Fällen gegen die Schützen strafrechtliche Verfahren und mit welchem Ergebnis eingeleitet wurden, teilte das BMI in besagtem Schreiben folgendes mit: „Der Schußwaffengebrauch richtet sich streng nach dem Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes unter besonderer Berücksichtigung des darin enthaltenen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Eine zahlenmäßige Erfassung der gewünschten Angaben erfolgte nur im Bereich des BGS sowie bei der Bayrischen Grenzpolizei für die Jahre 1981-1992 an der deutsch-österreichischen Grenze. Insgesamt sind 11 strafrechtlich/dienstliche Verfahren eingeleitet worden. Von denen sind 5 noch nicht abgeschlossen, und 4 Verfahren wurden eingestellt. Zu 2 Verfahren aus 1977 wurden die Unterlagen unter Beachtung der Aufbewahrungsfrist bereits vernichtet. Der Ausgang ist insoweit nicht mehr feststellbar.“ Kann es denn aus anderen als politischen Gründen möglich sein, daß es in der BRD nicht einmal einen Überblick über die Verletzten und Toten durch Schußwaffengebrauch an den Grenzen gibt und daß zum Beispiel Unterlagen von 1977 bereits vernichtet sind? (…)

Hohes Gericht, nach fast einem Jahr Verhandlungsdauer stellt sich mir dieser Prozeß so dar: Im Unterschied zu dem abgeschlossenen und den bisher laufenden Prozessen gegen Hoheitsträger der DDR, die wegen der gleichen Anschuldigungen der Staatsanwaltschaft vor bundesdeutschen Gerichten stehen, hat diese Kammer darauf verzichtet, zunächst unsere Pflichtenlage zu behandeln und zu prüfen, ob wir gegen das Recht der DDR oder das Völkerrecht verstoßen haben. Obwohl die Kausalität zu den hier behandelten Fragen nach DDR-Recht nicht gegeben war, wurde das Bestreben offensichtlich, an den uns von der Staatsanwaltschft zur Last gelegten Einzelfällen unsere Schuld zu beweisen.

Die bis ins Detail behandelten Vorgänge waren offensichtlich auch dafür bestimmt, das Mitgefühl für die Betroffenen und Emotionen zu wecken und die Angeklagten als Personen darzustelle, denen das Leben von Menschen nichts bedeutet, die Handlanger und Mitgestalter des Unrechtsstaates DDR waren.

Gleich zu Beginn das Prozesses drohte der Herr Vorsitzende ohne jeden Anlaß, er werde es nicht zulassen, daß die Opfer beleidigt oder gedemütigt werden. Das hatte, Herr Vorsitzender, auch niemand in der Absicht. Wir haben Respekt und menschlichen Anstand gegenüber Betroffenen. Aber es muß doch wohl gestattet sein, Widersprüche in den Aussagen und auch bewußte Falschdarstellungen deutlich zu machen. Und betrachtet man die einzelnen Fälle, so gibt es viele, sehr viele ungeklärte Fragen und Widersprüche. Wenn schon diese bedauerlichen Vorfälle – unter Umgehung der Kernfragen dieses Prozesses – als Beweis unserer Schuld dienen sollen, wäre es die Pflicht der Richter gewesen, jeden Fall unvoreingenommen und vollständig zu klären. Das war nicht der Fall. (…)

Alle Dokumente der Grenztruppen stehen dem Gericht dank unserer Aufbewahrung lückenlos zur Verfügung, keines wurde vernichtet, denn wir gingen immer davon aus, daß unser Handeln den Gesetzen unseres Staates entspricht und die Dokumente dies belegen. Angesichts der hemmungslosen Jagd der Staatsanwaltschaft II auf Angehörige der Grenztruppen aller Dienstgradgruppen frage ich mich heute, ob die Aufbewahrung – wegen dieser Folgen – richtig war. Alle Dokumente haben die Staatsanwaltschaft zudem nicht gehindert, in ihrem Plädoyer unter deren Ignorierung an ihren verleumderischen Behauptungen festzuhalten.

Wiederholt haben wir hier unser Mitgefühl für die Betroffenen zum Ausdruck gebracht. Im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft sind für uns Betroffene auch die Grenzsoldaten, die in Ausübung ihres Dienstes verletzt oder ermordet wurden. Wo stehen ihre Kreuze, wer legt zu ihrem Gedenken Kränze nieder? Die Erinnerung an diese Opfer soll restlos getilgt werden. Wir brachten unser Mitgefühl nicht zum Ausdruck, weil es zeitgemäß ist oder um einmal im Jahr – zum 13. August – die Opfer zu betrauern oder um sie, wie von den Politikern, für politische Ziele zu mißbrauchen. Unser Mitgefühl ist aufrichtig. Wir wissen um die Verantwortung eines Militärs für das Leben der Unterstellten, aber auch um die Achtung des Lebens von Menschen, die sich – wie das Gericht festgestellt hat – einer Rechtsverletzung schuldig gemacht haben. (…)

Man hat mir zu Beginn des Prozesses zu verstehen gegeben, daß den Vertretern der Nebenklage in Grenzerprozessen alles Mögliche und Unmögliche gestattet wird. In der Tat, Nebenkläger haben sich des öfteren in eine Rolle begeben, die jeder selbst bewerten mag. Das Plädoyer der Rechtsanwältin Westphal hat in erschütternder Weise deutlich gemacht, wie groß ihre Wissenslücken über das Leben und die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR sind. Für sie und für andere, die hier über uns zu Gericht sitzen, ist die DDR der Ausdruck des Bösen schlechthin. Folgt man ihrer Verhaltenslinie, so hatte die DDR 32 Millionen Bürger – nämlich 16 Millionen Unterdrücker und 16 Millionen Unterdrückte. In der Tat, Frau Westphal, haben wir bei der Suche nach Alternativen Fehler gemacht, unverzeihliche, die subjektiv – aber auch objektiv begründet waren. Unser Wohlstand in der DDR war ein bescheidener, was uns aber nicht unglücklich gemacht hat. Das Geld, der persönliche Reichtum, waren nicht das Maß aller Dinge. Es mangelte an manchem, aber insbesondere an vielem, was die Bürger der neuen Bundesländer nunmehr im Überfluß bekommen haben.

Um nur einiges davon zu nennen: Arbeitslosigkeit in einer Größenordnung, wie sie in Deutschland lange nicht zu verzeichnen war; Kränkungen und Demütigungen, Enteignungen und Strafrenten; Plattmachen von Industrie und Landwirtschaft; Abfackeln von Menschen und Unterkünften; eine Kriminalitätsrate unvorstellbaren Ausmaßes, Drogentote, Jugend ohne Lehrstellen und Perspektive, soziale Unsicherheit, eine Selbstmordrate bisher nicht gekannter Größenordnung, Obdachlosigkeit u.v.a.m. Ein Reisepaß, der auch nur etwas nützt, wenn man Geld hat, wiegt das wahrlich nicht auf. (…)

Herr Vorsitzender, Sie haben meinem Verteidiger und mir den Vorwurf gemacht und uns unterstellt, wir würden den Prozeß verzögern. Warum sollten wir das? Nicht wir wollten diesen Prozeß, und jeder Tag in diesem Gerichtssaal ist für mich eine erneute Demütigung. Es ist für mich unerklärlich, warum der Herr Vorsitzende – der doch unparteiisch sein soll – ohne Rücksicht auf das erkennbare Bemühen um Sach- und Rechtsaufklärung sozusagen „kurzen Prozeß“ macht. Die wohl am meisten gehörte Entscheidung im Verlaufe dieses Prozesses lautete „abgelehnt“. Warum wird ein völkerrechtliches Gutachten zu hier wichtigen Sach- und Rechtsfragen abgelehnt? Sind bundesdeutsche Richter allwissend und unfehlbar?

Es könnte Ihrer Autorität doch nur nützen, wenn auch von international kompetentenRechtswissenschaftlern die Rechtmäßigkeit dieses Prozesses bestätigt wird. Oder ist bekannt, was das Ergebnis solchen Gutachtens wäre, und man will das nicht wissen? Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß das schnell angestrebte Urteil in diesem Prozeß dazu dienen soll, die anstehende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes ebenso zu beeinflussen, wie das in den Spionageverfahren auch versucht wurde. (…)

Über vierzig Jahre- die meiste Zeit meines Lebens – lebte ich in der DDR. (…) Dieser Staat war für mich eine Alternative zum Kapitalismus. Die DDR war für mich der antifaschistische Staat auf deutschem Boden, der sich konsequent für Völkerfreundschaft und Frieden einsetzte, in dem es unmöglich war, daß Nazigrößen in Staat und Gesellschaft weiter Einfluß besaßen. Ich erlebte die DDR wie alle ihre Bürger, die die Gesetze ihre Staates achteten, als einen Staat, der

– niemals territoriale oder Besitzansprüche an andere Staaten gerichtet hat,

– der das Leben und die soziale Sicherheit seiner Bürger schützte,

– der für jeden das tägliche Brot und ein Dach über dem Kopf garantierte.

Breit verankert waren gegenseitige Hilfsbereitschaft, Solidarität und Gemeinschaftssinn. Dieser Staat war für mich verteidigungswürdig, und deshalb habe ich ihm treu gedient … die DDR … war trotz aller Unzulänglichkeiten und Fehler der bessere deutsche Staat im Vergleich zu den bisher existierenden. (…)

Hohes Gericht, zu Sicherheits- und militärpolitischen Aspekten und zu militärischen Fragen habe ich mich im Verlaufe des Prozesses geäußert und auf die überprüfbare Beweisführung in den Anträgen der Verteidigung verwiesen. Wenn man sich – wie ich – im sechsten Jahrzehnt seines Lebens befindet und – wie es heißt – unbescholten durch sein Leben gegangen ist, wird unbegreiflich, vor einem Strafgericht wegen korrekter Pflichterfüllung wegen Totschlages angeklagt zu sein. Dieser Tatbestand ist bekanntlich daran geknüpft, einen Menschen zu töten. Ich war Soldat und meinem Staat verpflichtet, Gesetzestreue war Bestandteil meines Lebens. Deshalb weise ich den Vorwurf der Anklage, ich wäre ein Totschläger, nochmals mit aller Entschiedenheit zurück. Dieser ungeheuerliche Vorwurf wird auch nicht gemildert durch die Abwiegelung, wir wären keine „gewöhnlichen Kriminellen“. (…)

Oberst Gertz, der Vorsitzende des Deutschen Bundeswehrverbandes, hat mir nach Kenntnisnahme der Unterlagen, die der Verfolgung von Generalen der DDR zugrunde liegen, in einer ausführlichen Stellungnahme u.a. mitgeteilt:

Zitat:

„Als gelernter Jurist, dem es auf Grund der Unterlagen ermöglicht wurde, eine Bewertung vorzunehmen, gehen ich nach dem Studium der Anklageschrift nunmehr davon aus, daß dem Versuch der Staatsanwaltschaft, Sie und die übrigen Angeklagten dafür verantwortlich zu machen, den Grundbefehlen nicht widersprochen zu haben, kein Erfolg beschieden sein kann. … „

In unserer Gemeinsamen Erklärung vom 3. 11. 1995 heißt es: „Es gibt keine reale Möglichkeit zur Verteidigung, wenn das Recht der DDR und das Völkerrecht nach aktuellen politischen Bedürfnissen der BRD verfälscht werden, um dadurch eine Verurteilung auf scheinlegaler Basis zu erzwingen. Wir sind dennoch entschlossen, uns trotz hoffnungsloser Lage nach Kräften zu wehren und um unser Recht und unsere Ehre als Bürger der DDR zu kämpfen.“(…)

1 thought on “In Erinnerung – Klaus-Dieter Baumgarten

  1. Vielen Dank für die Veröffentlichung dieser wahren Worte. Sie sollten in jedem Geschichtsbuch stehen. Aber das ist bei der noch immer andauernden Siegermentalität dieser BRD leider nur ein frommer Wunsch…
    Ich verneige mich nachträglich vor Klaus-Dieter Baumgarten.

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.